Mein Schreibtisch steht nicht mehr im besten Deutschland aller Zeiten

08.04.2024

Aquamarin war lange still. Aus gutem Grund. Mein Schreibtisch steht nicht mehr im besten Deutschland aller Zeiten, sondern in einem anderen Land. Dort steht er gut, habe ich inzwischen festgestellt. Dies wird ein persönlicher Text mit viel Erstaunen über mich selbst.

Wir waren doch so stark, so autark geblieben, so unbeugsam, ja, das waren wir wirklich. Wir haben Weihnachten und Geburtstage gefeiert mit sechs plus zwei minus drei plus acht geteilt durch 1,5 Leuten aus drei Haushalten. Was für ein Irrsinn – hat es das wirklich gegeben? Wir gingen mutig weiter einkaufen und tanken, jede Woche, und haben die verbale Steinigung ertragen, weil wir unsere staatlich befohlene Burka nicht getragen und unser Rabattmarkenheftchen nicht vorgezeigt haben. Aber wir haben es jedes Mal geschafft, stolz mit unserer Beute nach Hause zu kommen. Wir haben unser Leben gelebt, haben Freunde gefunden und solche, die wir dafür hielten, verloren. Und wir dachten: Hey, seht uns an, wir kommen gut zurecht, wir halten es aus. Wir leben einfach weiter wie bisher.

Ja, wir blieben unbeugsam. Was wir aber bei aller Unbeugsamkeit nicht gemerkt hatten, waren die Risse in der Rinde, die locker gerüttelten Wurzeln, die vertrockneten Zweige, die leise entstanden waren. Noch an dem Tag als wir zu dem Ergebnis kamen "Wir müssen gehen" haben wir es nicht bemerkt. Wir fuhren los, einzeln, in verschiedene Länder, um unser Zuhause zu finden, das uns abhandengekommen war. Wir waren nicht vorbereitet auf das, was dann kam.

Wir trafen lächelnde Menschen, die uns die Hand schüttelten, geöffnete Restaurants, in denen wir auch als Nazis essen durften, wir sahen Frohsinn, erlebten Leichtigkeit, unbeschwerte Kinder. Wir konnten in jedes Geschäft, ohne vorher die geistige Ritterrüstung anzuziehen und rhetorisch feuerfeste Erwiderungen zurechtzulegen, wir konnten schlendern wann und wohin wir wollten, wir konnten jeden ansprechen und jeder antwortete uns gern, ohne 150 cm Abstand zu halten, ohne Bittermiene, ohne hochgezogene Augenbraue, ohne lauernden Denunziantenblick, ohne Aggression - wir trafen auf völlig normale Menschen in einer völlig normalen Gesellschaft.


 Unterwegs ereilte mich ein Schock, den ich nicht erwartet hatte: Was war nur mit uns geschehen? Wir, die Unbeugsamen, wir liefen mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick, wir hatten Herzklopfen, wenn uns jemand länger als eine flüchtige Zehntelsekunde ansah. Wir hatten die geladene Kalaschnikow auf der Zunge parat, für den Fall, dass… Wir Verweigerer der dämlichen Grußfaust erschraken plötzlich, als uns jemand lächelnd die Hand zum Gruß entgegenstreckte! Wir zuckten innerlich, wenn uns jemand auf offener Straße oder gar in einem Restaurant ansprach. (Was will er mir vorwerfen?) 

Das Erkennen des Ausmaßes unserer seelischen Deformation schlug mir wie ein Boxhieb ins Gesicht. Ich, der Unbeugsame, der Tapfere, der Mutige, lief und fuhr durch die Straßen des fremden Landes und die Tränen rannen mir übers Gesicht, weil mir bewusst wurde, wie sehr man mich gequält hatte. Stark hin oder her.

Ich war zutiefst erschrocken über mich selbst. Das hatte es also doch mit mir gemacht. Und ich hatte es nicht bemerkt. Vielleicht etwas geahnt, aber nicht in diesem Ausmaß für möglich gehalten. Ich weinte wie ein Kind, das dem Griff des Bösen entkommen war und erleichternd feststellte, dass die heile Welt jenseits der Grenzen des besten D aller Zeiten noch da war! Es waren Tränen der Erleichterung, der Befreiung, der Gerechtigkeit, der Liebe zum Leben. Und es waren Tränen der Heilung, der Zuversicht und der Selbstbestätigung.


Mehr als eineinhalb Jahre bin ich nun im neuen Zuhause, im neuen Land. Hier ist kein Krieg. Hier herrscht Frieden. Ja, auch hier sind die Menschen gutgläubig-uninformiert, aber das ist ein anderes Thema. Wir leben nun in einem Land ohne Terror, ohne Bespitzelung, ohne Aggressionen, ohne politisch-pharmazeutische Bevormundung, ohne Staatswillkür. Wir sind noch nicht ganz raus aus der Rekonvaleszenz – vielleicht bleiben manche Narben auch für immer. Monat für Monat aber heilen das freundliche Lächeln der Nachbarn, die ungehemmte, herzliche Kontaktfreudigkeit aller Menschen, die fröhliche Geselligkeit, die Freiheit, die respektvolle Diskretion und allem voran, der wundervolle stinknormale Alltag der Menschen, die sich Hände schütteln, umarmen, feiern, singen (war verboten, schon vergessen?) wie es auch in dem Land, aus dem ich komme, vor Jahren üblich war, Wunden in mir, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gab. Inzwischen bleibe ich sogar entspannt, wenn ich mit Husten und Schnupfen Menschen begegne. Es interessiert hier einfach niemanden.

Wir haben Frieden gefunden. Wir sind frei. Wir können uns wieder auf das Leben konzentrieren und den Blick nach vorne richten. Nein, Auswandern ist kein Sonntagsspaziergang, und auch wir mussten auf dieser Flucht vieles zurücklassen, das einem manchmal schmerzlich fehlt. Dennoch kann ich sagen, dass es die beste und lohnendste Entscheidung meines Lebens war, die ich keine Sekunde bereue.

Ich habe gelernt: Zuhause ist nicht ein Land, eine Gewohnheit oder ein Geburtsort. Zuhause ist da, wo man sich behaglich und sicher in einen friedlichen Alltag lehnen kann, wo Menschen sind, die Anstand und Miteinander leben. Zuhause ist frei von asozialer Missgunst und anmaßender aggressiver Bevormundung und Kritik.

Zuhause ist da, wo man dir wohlwollend und gleichberechtigt einen Platz am Ruder zugesteht, weil allen bewusst ist, dass wir zusammen in einem Boot sitzen, aber wo jeder ganz selbstverständlich sein Ruder führt, wie er es für richtig hält. Zuhause ist da, wo jedem jeden Tag bewusst ist, dass er ein kleines, aber wichtiges Rad im großen Getriebe und darum bereit ist, sein Bestes zu geben, damit es alle gut miteinander haben. Zuhause ist da, wo Frieden ist und wo die Menschen lächeln.



Kontakt:   Aquamarin-8@web.de


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